Donnerstag, 11. Dezember 2025 – internet24 Boulevard –
Bulgarien im Umbruch:
Korruption, Proteste und die Suche nach einem Neuanfang
Bulgarien erlebt derzeit eine seiner tiefsten politischen Krisen seit dem EU-Beitritt 2007. Der Rücktritt von Ministerpräsident Rossen Scheljaskow im Dezember 2025 markiert einen Wendepunkt, der weit über die Tagespolitik hinausgeht. Die Ereignisse werfen ein Schlaglicht auf die strukturellen Probleme des Landes: Korruption, politische Instabilität, wirtschaftliche Abhängigkeiten und eine überalterte Gesellschaft.
Massenproteste und Rücktritt
Anfang Dezember gingen Zehntausende Menschen in Sofia, Plovdiv und anderen Städten auf die Straße. Sie forderten den Rücktritt der Regierung, skandierten „Mafia“ und „Rücktritt“. Auslöser waren nicht nur die Korruptionsvorwürfe gegen Scheljaskow und seine Mitte-Rechts-Regierung, sondern auch ein umstrittener Haushaltsentwurf mit Steuererhöhungen sowie die bevorstehende Einführung des Euro. Am 11. Dezember zog Scheljaskow die Konsequenzen und trat zurück – nur Minuten vor einer Misstrauensabstimmung im Parlament.
Korruptionsvorwürfe und mafiöse Netzwerke
Die Vorwürfe sind gravierend: Vetternwirtschaft, Misswirtschaft und enge Verbindungen zu mafiösen Strukturen. Präsident Rumen Radev sprach von einer „Provokation der Mafia“. Doch Korruption ist in Bulgarien kein neues Phänomen. Schon seit Jahren prägen Skandale das politische Leben:
- Deljan Peewski: Oligarch und Politiker, von den USA wegen Korruption sanktioniert.
- Boyko Borissow: Langjähriger Premier, 2022 kurzzeitig festgenommen – Verdacht auf Erpressung und Betrug.
- EU-Geldmissbrauch: Wiederkehrende Fälle, besonders im Bau- und Agrarsektor.
Diese Beispiele verdeutlichen, dass es nicht um einzelne Fehltritte geht, sondern um ein System, das Korruption begünstigt und institutionelle Schwächen offenbart.
Politische Zersplitterung
Nach dem Rücktritt steht Bulgarien vor Neuwahlen im Frühjahr 2026 – der achten Wahl in fünf Jahren. Umfragen zeigen ein fragmentiertes Bild: GERB–SDS (konservativ, Borissow) etwa 28 %, DPS (Minderheitenpartei) 18 %, liberale Kräfte (PP–DB) und Nationalisten (Vŭzrazhdane) jeweils rund 14 %, Sozialisten (BSP) 8 %. Keine Partei erreicht eine Mehrheit. Das bedeutet: Bulgarien steuert erneut auf komplizierte Koalitionsverhandlungen zu. Die Gefahr eines politischen Stillstands ist groß.
Demografie und Wahlverhalten
Die wahlberechtigte Bevölkerung ist stark überaltert. Rund 22 % sind über 65 Jahre alt, das Medianalter liegt bei 44,8 Jahren. Ältere Wähler sind besonders wahlaktiv und beeinflussen die politische Agenda stark – Renten, Gesundheitsversorgung und soziale Sicherheit stehen im Vordergrund. Junge Wähler hingegen sind weniger mobilisiert und stellen nur einen kleinen Teil der Wählerschaft.
Wirtschaftliche Stützen und Defizite
Trotz politischer Turbulenzen konnte die bulgarische Wirtschaft 2025 ein Wachstum von rund 2,5 % verzeichnen. Treiber waren privater Konsum, EU-finanzierte Infrastrukturprojekte, ein wiedererstarkter Tourismus, IT-Dienstleistungen und Outsourcing sowie Maschinenbau und Industrie – vor allem durch Nachfrage aus Deutschland.
Doch die Defizite sind gravierend: Fachkräftemangel durch Abwanderung junger Menschen, institutionelle Schwächen, Korruption und eine alternde Bevölkerung. Bulgarien bleibt stark abhängig von EU-Mitteln und hat Schwierigkeiten, eigenständig Innovationskraft zu entwickeln.
Vom Kommunismus zur Oligarchie
Nach dem Ende des Kommunismus 1989 begann eine massive Privatisierungswelle. Staatseigentum wurde oft unter fragwürdigen Bedingungen verkauft. Eine kleine Elite sicherte sich Schlüsselindustrien und baute ihren Einfluss aus. Heute gelten die Brüder Georgi und Kiril Domuschiev als reichste Bulgaren, beide mit jeweils rund 2,9 Milliarden US-Dollar Vermögen. Sie stehen exemplarisch für eine Oligarchenschicht, die Politik und Wirtschaft prägt.
Die Rolle der EU
Viele Bulgaren fragen sich, warum die EU nicht härter gegen Korruption vorgeht. Tatsächlich agiert Brüssel vorsichtig: Seit 2007 überwacht der Kooperations- und Kontrollmechanismus (CVM) Justizreformen, die EU-Kommission kritisiert regelmäßig mangelnde Fortschritte und Fördermittel wurden bei Verdacht auf Missbrauch eingefroren. Direktes Eingreifen ist jedoch begrenzt. Geopolitische Rücksichtnahme und die strategische Lage Bulgariens am Schwarzen Meer führen dazu, dass die EU eher auf „sanften Druck“ setzt als auf offene Konfrontation.
Ausblick
Bulgarien steht vor einer entscheidenden Wahl. Die Einführung des Euro am 1. Januar 2026 wird das Land wirtschaftlich enger an die EU binden. Politisch jedoch droht ein erneutes Chaos. Ohne eine stabile Regierung, die Korruption ernsthaft bekämpft und institutionelle Reformen durchsetzt, bleibt Bulgarien anfällig für mafiöse Netzwerke und wirtschaftliche Abhängigkeiten.
Die Proteste zeigen: Die Bevölkerung hat genug. Ob daraus ein echter Neuanfang entsteht, hängt davon ab, ob die politischen Kräfte diesmal über ihre Lager hinweg eine stabile Koalition bilden können – und ob die EU bereit ist, mehr als nur zuzusehen.





